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«Die Eidechse schleiche mit offenen Sinnen durch die Gegend, fange alles ein, was sie umgebe, bleibe kurz wie erstarrt stehen und schlüpfe, wenn Gefahr drohe, blitzartig in eine Loch. Genau so sei das Kind.»
„Gastarbeiter“ hiessen damals die Fremden aus dem Süden, die man brauchte, aber eigentlich gar nicht hier haben wollte. Sie durften in der Schweiz arbeiten, ohne Familie und nur für neun Monate. Die Schweiz hielt sich dabei für grosszügig – und übersah geflissentlich, dass sie damit menschliche Opfer erzeugte, die oft erst Jahre später offenbar werden sollten. Vincenzo Todisco erzählt davon in seinem Roman „Das Eidechsenkind“. Das Kind hat keinen Namen, nur „Lucertola“, eben Eidechsenkind, weil es lernte, wie eine Eidechse in Schlupflöchern verschwinden und sich perfekt unsichtbar zu machen. Allmählich sollte das Eidechsenkind zum Eidechsenjungen werden, ohne je eine Schule zu besuchen. Es lebt illegal im Gastland. Seine Eltern arbeiten auf ihre Rückkehr hin, aber immer fehlt noch etwas dazu. Mehr und mehr wird die Heimat im Süden zum fernen Traum. Das Kind bleibt zuhause und erkundet dieses Haus bis in die kleinsten Ecken und Ritzen. Es gewinnt ein paar Freunde, doch alle ausser dem dicken Carlos haben ein Leben ausserhalb der vier Wände. So wird das Eidechsenkind eigensinnig, verträumt und ungehorsam. Es findet seine Ruhe auf dem Dach, später wird es nachts allein die Stadt erkunden. Doch gut kann das nicht ausgehen. Vincenzo Todisco erzählt erstmals auf Deutsch von diesem traurigen Eidechsenkind. Die Wahl der Sprache manifestiert sich in der einfachen, kargen Erzählweise, in die die Entfremdung seiner Protagonisten förmlich hineinkriecht. Vincenzo Todisco enthält sich aller Künstlichkeit, einzig einen Zug ins Märchenhafte, vielleicht Mysteriöse schwingt mit. Im Kern der Erzählung aber hält er sich strikt ans Beschreiben einer unhaltbaren Situation, die im kollektiven Gedächtnis des Gastlandes nur langsam, wenn überhaupt, angekommen ist. Sie haben doch gut verdient, und in Italien hätte es gar keine Arbeit gegeben, wurde ihnen entgegen gehalten. Weshalb also sich beschweren? Dem Hochmut der einen, repräsentiert durch den Chef des Vaters oder durch das Hausmeisterpaar, entspricht der Kleinmut der anderen, der Eltern, die in ständiger Furcht vor der Entdeckung ihres Geheimnisses leben. Nur beim Singen lässt der Alpdruck auf der Seele ein wenig nach – ja, sie sind ein lustiges Völkchen, diese Italiener! Das alles bricht in Todiscos Roman auf gleichermassen ungeschminkte wie unterschwellige Weise auf. Sollte es das wirklich gewesen sein: ein Quantum Verachtung für den falschen Lebenstraum? „Das Eidechsenkind“ erzählt diese Geschichte mit verblüffend einfachen Worten.
(Beat Mazenauer)
Edition Blau (im Rotpunktverlag), Zürich 2018
ISBN: 978-3-85869-783-7