Ein dunkles Geheimnis steht der Geschichte von Mia und Viid im Weg, das Mia lange nur erahnt. Anita Hansemann bettet dieses Romeo-und-Julia-Motiv stimmig in die atemberaubende und zugleich angsteinflössende Topographie St. Antöniens ein. Wie die raue Landschaft ist das Leben hier von Gegensätzen geprägt: lieblich und sanft, zugleich gefährlich und schrundig. Die Gemeinschaft hält zusammen, wenn beispielsweise im Winter Lawinen drohen, diese Solidarität bedeutet handkehrum auch, dass „Fremde“ wie Viid und seine Mutter darauf nicht vertrauen können. Der „Kesslerin“ wird mit Argwohn begegnet, weil sie womöglich über magische Mächte gebietet. Solche sind in dieser Bergwelt überall wirksam, im Guten wie im Bösen. Die weisse Gämse oder das Äbifräuli stehen für das diffuse Zwielicht zwischen Realität und Träumerei, Glaube und Irresein.
Mit dieser doppelten Belichtung versöhnt Anita Hansemann Glück und Scheitern in ihrer Liebesgeschichte, die auch ein moderner Heimatroman ist. Während sie die täglichen Verrichtungen nüchtern festhält und die natürlichen Vorgänge mit grosser Hingabe beschreibt, sickert das Mysteriöse unbemerkt in die Erzählung ein. So wie sich den Reisenden der Talkessel von St. Antönien weit öffnet, gibt das Buch den Blick frei auf eine Welt, in der sich magisches Denken und Naturerleben wundersam miteinander verbinden.
(Beat Mazenauer)
Edition Bücherlese, Luzern 2018
ISBN: 978-3-906907-13-0