Ganz so schlimm steht es aber nicht mit ihm, wie das morgendliche Erwachen zeigt. Der Onkel ist noch da, auch wenn er an zunehmender Inkontinenz leidet, sich immer weniger wäscht und sein Zimmer mit Abfällen vermüllt. Ja, es stimmt einiges nicht mir ihm, dennoch teilen die Erzählerin und ihr Bruder mit ihm das Haus am Meer, in der französischen Provinz, wo das Leben still steht und der Supermarkt neben der örtlichen Vieille Auberge die einzige Attraktion bildet. Das Warum dieser „unfreiwilligen Wohngemeinschaft“ bleibt ebenso im Dunkeln wie andere Familiengeschichten, die unter dem Schleier des Schweigens nur vage Umrisse erhalten. Eigentlich ist es schon so, wie der Bruder meint, „dass nichts von alledem tauge, um daraus einen Roman zu machen“, wo der Onkel nicht sterbe und allenfalls Anekdoten „über den Tod von Kaninchen oder den Preis von Lauch und Karotten“ hergebe.
Dennoch legt Rebecca Gisler einen Roman vor, in dem es einen Garten gibt, einen Onkel, der seinen dicken „Haustierbauch“ auf den Esstisch legt, den Supermarkt und sonst wenig mehr, was die Aufmerksamkeit der Erzählerin fesseln müsste. Meist herrscht ruhige Gelassenheit, hin und wieder aber steigt der Puls, etwa wenn der Onkel akut ins Spital muss und der Bruder wenig später entnervt abreist.
„Vom Onkel“ ist ein unspektakuläres, ruhig erzähltes Buch. Rebecca Gisler packt ihre Beobachtungen in lange, verwickelt schön komponierte Sätze, die sich der Lektüre nicht verweigern, sondern sie sanft zum Schwingen bringen. Zwar fehlt es ihm ein wenig an gewitzter Schärfe, denn der Onkel stört nicht und provoziert nicht. Auch der Reisefilm über die Schokoladenschweiz, den der Bruder und die Erzählerin schauen, weil sie da herkommen, bleibt mit seiner Überzeichnung nett und klischeehaft. Die Konflikte bleiben, durch die freundliche Erzählerin vermittelt, ganz in der Familie. Ihr Bruder und ihre Mutter auf Besuch, also die Schwester des Onkels, wenden sich angewidert oder überfordert von ihm ab. Nur die Erzählerin hält ihm die Treue, deshalb will sie ihn am Ende, wie er auf einmal verschwunden ist, auch suchen. Und sie wird ihn finden – wie er versucht eine Möwe zu verspeisen. Die Stärke dieses Buches liegt in der unerschütterlichen Empathie, mit der sich die Erzählerin nicht von den Kapriolen ihres Onkels abschrecken lässt. Unter ihrem Blick behält er, mag vieles an ihm auch grauslich sein, einen verstockten Charme.
Speziell an „Vom Onkel“ ist aber vor allem die Tatsache, dass Rebecca Gisler davon zwei Versionen, eine französische und eine deutsche, verfasst hat, wobei die beiden Versionen nicht deckungsgleich sind, sondern je sprachlichen Eigensinn behaupten – so ein wenig an Camenisch zweisprachiges „Sez Ner“-Buch erinnernd. Sie reiht sich mit „Vom Onkel“ ein in die Liste der ebenso sym- wie empathischen Bücher über gesellschaftliche Aussenseiter, die zurzeit nicht nur en vogue scheinen, sondern auch prädestiniert für Auszeichnungen sind (s. Anaïs Meier, Ariane Koch).
In ihrer Begründung für die französische Version ihres Buches schreibt die Jury der Schweizer Literaturpreise: „Mit einer präzisen Sprache, die an Kafkas Insektenkunde erinnert, wobei die seltsame Kreatur hier dieser gargantueske Dickbauch ist, trifft Rebecca Gisler in ihrem ersten Roman den Ton beeindruckend genau: Sie bewegt sich geschickt zwischen tolldreister Geschichte und ironischem Realismus, ohne dabei jemals in das Widerwärtige oder Groteske abzudriften, und zeichnet ein Familienporträt von tiefer Menschlichkeit.“
(Beat Mazenauer)
Übersetzung des Titels: Auch: D'oncle
Atlantis Verlag, Zürich 2022
ISBN: 978-3-7152-5003-8